Kunst und Fotografie –
Zur Einführung

Ist Fotografie Kunst? Gehört sie ins Museum? Kann Fotografie mehr, als nur eine Chronistin unserer Zeit zu sein? Die Meinungen darüber, zu was Fotografie im Stande ist und was sie nicht leisten kann, sind Teil ihrer Geschichte.

Seit Beginn ihrer im Jahre 1836 patentierten Existenz ist die Fotografie einer steten Hinterfragung der eigenen Positionierung in den bildenden Künsten ausgesetzt. Dokumentarische Fähigkeiten sowie die Schaffung neuer Sichtweisen auf die Welt waren dabei zwar stets essenziell für das Wirken zahlreicher Künstler*innen, ein wahrhaftiger Kunstgehalt wurde den entstandenen Bildern in der damaligen Rezeption jedoch nicht zugesprochen.

Im 19. Jahrhundert dominierte zunächst das von der Industrie geförderte Image des automatisierten Fotoapparates, der ein allgemein „verständliches“ Versprechen des Fotos im Hinblick auf die „Wirklichkeit“ bedeutete: “You Press the Button, We Do the Rest”, formulierte etwa George Eastman, Gründer der Eastman Kodak Company, im Jahre 1888.

Im 20. Jahrhundert änderte sich der Status dieser Technik: Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren konnte Fotografie auch als Kunst gelten. Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Einschätzung –  in Deutschland bis in die ausgehenden siebziger Jahre. Seitdem aber sammeln auch Kunstmuseen dieses Bildmedium. Das Sprengel Museum Hannover tut dies seit seiner Eröffnung im Jahre 1979.

Wichtig ist dabei das „autonome“ Bild und nicht der zuvor aufgegebene Kontext seiner Veröffentlichung. „Künstlerische Fotografie ist nicht besser als journalistische Fotografie, Mode-Fotografie oder wissenschaftliche Fotografie. […] Wenn wir darüber nachdenken, was Bilder können, muss auch klar sein, was sie wollen und genau das ist je nach Diskurs etwas Anderes.“ (Stefan Gronert)

Historische Ungleichzeitigkeiten:
Europa - Amerika

War die Auseinandersetzung mit künstlerischer Fotografie in den USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine kontinuierliche Auseinandersetzung bestimmt, so ist die Rezeption in Europa durch deutliche und zeitlich weitreichende Einschnitte gegangen.

Innerhalb von Europa führte nach 1945 eine heterogene Entwicklung die Fotografie zu kunstrelevanten Ufern. Die daraus resultierende Historie lässt sich zwar an einzelnen Personen, Gruppen und Nutzungsintentionen kategorisieren; ein Zusammenspiel von Ausstellungen, Galerien und akademischen Grundlegungen schuf jedoch den Grundstein einer kunstbedingten Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie.

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Die Karriere der in den zwanziger Jahren bereits künstlerisch anerkannten Pioniere August Sander, Umbo oder Albert Renger-Patzsch endete in Europa buchstäblich im Nationalsozialismus. Karl Blossfeldt oder Aenne Biermann verstarben und gerieten ebenfalls bis in die 1970er-Jahre in Vergessenheit. Alexander Rodtschenko kehrte nach seinen Aktivitäten in der mitteleuropäischen Avantgarde in die UdSSR zurück. Und wichtige Fotografen wie André Kertesz, Herbert Bayer, László Moholy-Nagy oder Man Ray emigrierten während des Zweiten Weltkriegs in die USA, Germaine Krull nach Brasilien und Afrika. Zeitgleich exportierte die US-Amerikanerin Berenice Abbott weite Teile des Nachlasses von Eugène Atget in ihre Heimat und sorgte dort für dessen Rezeption.“ (Stefan Gronert) Für den Wandel in Europa ist besonders die Zeit der 1970er Jahre von entscheidender Bedeutung. Die documenta V. (1972) und VI. (1977) wirkten integrierend und zugleich freistellend für das Medium, das Galeriewesen schuf in Städten wie Köln (Galerie Wilde) ihre ersten Ausstellungsräume und in Düsseldorf wurde 1976 die erste Professur für künstlerische Fotografie an einer deutschen Kunstakademie mit Bernd Becher besetzt.

William Eggleston
Ohne Titel, 1978
Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover

Wenn es um die künstlerische Bildsprache der Fotografie geht, war die amerikanische Fotografie lange Jahre der Primus und die entscheidende Referenz für die europäische Wahrnehmung. Namen wie William Eggleston, Stephen Shore, Lee Friedlander oder Robert Adams gehören heute zum Grundvokabular des Mediums. Erst ab den 1980er Jahren gelang es jedoch in Europa, die zwanghafte Orientierung am amerikanischen Maßstab durch eigene Positionen abzulegen und eigenständige Wege einzuschlagen.

Stephen Shore
Main Street, Gull Lake, Saskatchewan, 1974
Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover

Das neue Verständnis für die Fotografie aus Kanada und den USA sollte ab den 1970er Jahre zu einem geradezu explosionsartigen Wandel führen. Technische Entwicklungen wie die Farbfotografie zogen endgültig mit Ausstellungen von William Eggleston und Stephen Shore in die Museen ein. Wegweisende Präsentationen von Douglas Crimp im Jahr 1977, die unter dem Namen „Pictures“ heute als Beginn der Appropriation Art rezipierten werden, schufen den Nährboden für Neues. Großformatige Tableaus, die Künstler wie Jeff Wall erstmals in ihren Leuchtkästen einsetzten, erweiterte die Präsentation und die Rezeption von Fotografie zusätzlich.

An dieser Stelle, um 1980, setzt die Ausstellung TRUE PICTURES? ein.

Grenzen eines „Vorbilds“

Kunst und explizit das einzelne Kunstwerk ist nicht immer nur ein Abbild geopolitischer oder sozialpolitischer Fragestellungen und Dimensionen. Der rein autonom ästhetische Aspekt eines Werkes ist stets zu berücksichtigen und spielt auch bei den zahlreichen Arbeiten innerhalb der Ausstellung eine entscheidende Rolle.

Die Rede ist in diesem Zusammenhang von zwei Ländern, die in Nordamerika liegen, aber: Kennen wir Nord-Amerika wirklich?

Geographisch betrachtet, ist dies ein Kontinent, der aus 23 autonomen Staaten und 18 abhängigen Inselregionen besteht. Mit 529 Millionen Einwohnern ist er der mit 81 Prozent am stärksten urbanisierte Bereich der Erde.

In den vierziger und fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war New York der Sammelplatz einer von Europa abgewanderten Leitidee des künstlerischen Modernismus. Schaut man aus heutiger Perspektive jedoch etwa drei Jahrzehnte zurück, so hat das europäische Interesse an der amerikanischen Kunst deutlich abgenommen. Das Modell der amerikanischen „Leitkultur“ ist seit den ausgehenden neunziger Jahren nicht mehr verbindlich vorliegend.

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Lee Friedlaender,
New York City, 1966
Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover

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Robert Adams,
Tract house and outdoor theater. Colorado Springs, aus der 56-teiligen Serie „The New West“ (Teil 16)
Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung im Sprengel Museum Hannover

Ein Grundproblem der Vergangenheit ist in der Privilegierung von weißen, hauptsächlich männlich konnotierten Positionen festzumachen. US-amerikanische Fotografen wie Robert Adams, William Eggleston oder Lee Friedlander waren im ausgehenden 20. Jahrhundert zwar noch eine in den deutschsprachigen Museen „neuartige Entdeckung“, sie verdeutlichen aber auch die zu einseitig forcierte Betrachtungsweise. Sie sind weitgehend durch einen „dokumentarischen Stil“ (Walker Evans) geprägt. Die Fotografien, die seit dem Zeitraum um 1980 geschaffen worden sind, haben jedoch eindeutig die tradierten Paradigmen des Dokumentarischen abgelegt.

Erweiterung des Horizonts:
Kanada

Wie der Hinweis auf den Fotografen Jeff Wall bereits andeutet, wird die einseitige Fokussierung auf die US-amerikanische Fotografie um 1980 um einen nicht unwesentlichen Beitrag erweitert, nämlich um Kanada.

Was genau ist eigentlich kanadische Kunst? Erst seit den 1980er Jahren ist davon zu sprechen, dass genauer auf die beiden Begriffe und ihre jeweiligen Wertigkeiten geschaut wurde.

Erstaunlicherweise aber gibt es bislang noch keine umfangreiche Aufarbeitung der Geschichte der kanadischen Fotografie. Sie nahm erst seit etwa dem Jahr 1967 – dem Jahr der hundertjährigen Unabhängigkeit des Landes – Einzug in die Museen (National Gallery of Canada) und wurde damit zum ausgestellten und gesammelten Kunstobjekt.

Die Ausstellung im Sprengel Museum Hannover widmet sich im Allgemeinen der Aufarbeitung einer noch nicht vollständig vorliegenden Geschichte der zeitgenössischen kanadischen und US-amerikanischen Fotografie. Die dabei eingenommene Perspektive einer europäischen und damit bisweilen fremd bestehenden Sicht ist jedoch zu berücksichtigen.

Jeff Wall,
The Thinker, 1986
Privatbesitz, München

Der heute zweifellos bekannteste Vertreter einer dezidiert kanadischen Fotografie ist der in Vancouver geborene Jeff Wall (*1946).

Erst am Ende der 1980er Jahre wurden seine Arbeiten jedoch in Europa zu einem sichtbaren Ausmaß gebracht und großflächig einsichtig. Die allgemeine Rezeption der Werke wurde durch eine Kombination mehrerer Faktoren in der öffentlichen Wahrnehmung verstärkt, die sich in Ausstellungen, wissenschaftliche Rezeptionen und galeriebedingte Sichtbarmachung verdeutlicht.  

Die Documenta VIII. und IX. (1982 und 1987) und die Düsseldorfer Gruppenausstellung „Ein anderes Klima“ (1983) präsentierten die Arbeiten des kanadischen Künstlers einem größeren Publikum, die Zeitschrift Kunstforum International (Bd. 65, 1983) ermöglichte den fachspezifischen Austausch sowie Diskurs und der Galerist Rüdiger Schöttle in München und die Galerie Johnen & Schöttle in Köln schufen eine erste Präsentationebene der Werke.

Jeff Walls Arbeiten zeichnen sich durch eine klar urban landschaftliche Sicht aus, die es zum Ziel hat, ein alternatives Bild der nordamerikanischen Kultur zu vermitteln.

 

Jeff Wall (*1946), Rodney Graham (*1949) und Ian Wallace (*1943) bilden die erste Generation einer international erfolgreichen Fotografie aus, die in Europa in unterschiedlich starken Ausschlägen rezipiert worden ist. Sie sind unter dem Begriff „photo-conceptualism“ zusammenzufassen und stellen die Grundlage einer erstmaligen Wertschätzung von kanadischer Fotografie als Kunst in der europäischen Rezeption dar. Bekannt ist ebenfalls der von den Künstlern nicht beliebte Begriff einer „Vancouver School“, zu deren frühen Vertretern man auch Roy Arden (*1957) oder Stan Douglas (*1960) zählt. Sie bilden durch die Etablierung zusätzlich eine klare Abgrenzung und Gegenreaktion zu der in Kanada vorherrschenden lyrischen, romantischen und expressiven Malerei aus. Auffällig ist hierbei aber, dass weibliche Positionen wie die von Vikky Alexander (*1959) ABB. oder Kelly Wood (*1962) bislang weitgehend ausgeblendet worden sind.

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Ian Wallace,
Poverty (with Blue), 1988
Greta Meert Gallery, Brüssel

Roy Arden,
Wal-Mart Store (Apple Jacks), Burnaby BC, 1996
Monte Clark Gallery, Vancouverk

Eine neue „Wahrheit“
der Fotografie?

Keine Fotografie ist kontextfrei.
Die Betrachtung einer amerikanischen Fotografie mit den Augen eines Mitteleuropäers mag sicherlich variierte Fragestellungen erzeugen, als es eine amerikanische Sichtung zu Tage fördern würde.
Von „richtig“ oder „falsch“ kann dabei aber nicht die Rede sein.

Ab 1980 ist zu beobachten, dass sich in der amerikanischen und kanadischen Fotografie ein klarer und letztendlich weitreichender Wandel in der Bildsprache vollzogen hat. Doch gab es ein einschneidendes Ereignis, eine Nullstelle für den Beginn von „Gegenwart“?

Jeff Wall,
The Destroyed Room, 1978
Collection of the National Gallery of Canada, Ottawa

Sicherlich gibt es einige Anzeichen für diesen Wandel: Da ist die Verbreitung der Farbfotografie im Kunstkontext seit 1976. Wichtig ist überdies die formale Vergrößerung des Bildes.


Im Jahre 1978 zeigte Jeff Wall seinen Leuchtkasten „The Destroyed Room“. Hier tritt die Fotografie offensichtlich in eine Konkurrenz mit einer zeitgenössischen Malerei, die zu jener Zeit eine Renaissance erfuhr.

Ein Meilenstein der neueren Kunstgeschichtsschreibung ist ferner die von Douglas Crimp im Jahr 1977 initiierte Ausstellung mit dem schlichten Titel „Pictures“.

 

Die als Appropriation Art bezeichnete Kunst erweist sich als „postmodern“, insofern sie sich vorhandene Bilder einfach aneignet. Sie markiert eine Infragestellung der medial vermittelten „Wahrheit“ und hinterfragt kritisch die modernistischen Mythen von Autorschaft, Originalität und Authentizität. Sind das „echte“, „wahre“ Bilder? Und was zeigen sie nun wirklich Neues?

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Douglas Crimp
Ausstellungskatalog ‘Pictures’, 1977

Cindy Sherman,
Untitled #603, 2019
Sammlung Goetz, München

Die später so genannte „Pictures Generation“ jener Künstler*innen aus dem Umfeld der Ausstellung von 1977 ist darüber hinaus ganz wesentlich für die Kunstgeschichte, da sie erstmals einen enormen Stellenwert von weiblichen Positionen dokumentiert und auch insofern neue „Vorbilder“ für folgende Generationen schuf. Künstlerinnen wie Cindy Sherman, Louise Lawler oder Sherrie Levine. sind heute international bekannt und schufen durch ihren vergangenen Durchbruch den Nährboden für Zukünftiges.

TRUE PICTURES?
Die Gegenwart kann beginnen

Die Ausstellung „TRUE PICTURES? Zeitgenössische Fotografie aus Kanada und den USA“ setzt nun an dieser Stelle ein. Was darf man inhaltlich hier erwarten?

 

Ausgestellt werden insgesamt 36 Positionen mit sehr unterschiedlichen Bildern, die zwischen 1977 und 2021 entstanden sind. Dabei lassen sich diverse thematische Leitlinien beobachten: Es gibt vielfach politisch aufgeladene Themen – wie die von Nan Goldin, Allan Sekula oder Anthony Hernandez bis hin zu Ken Lum, Trevor Paglen oder Taryn Simon.

Anthony Hernandez,
Screened Pictures #8, 2017
Galerie Thomas Zander, Köln

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Ken Lum,
There is no Place like Home, 2000
The artist

Collier Schorr,
Untitled, 2018
Courtesy of the artist and 303 Gallery, New York

Ein weiterer großer Themenbereich umfasst die Frage nach Sexualität und Gender, wofür etwa Collier Schorr oder Martine Gutierrez stehen.

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Walead Beshty,
Cross-Contaminated RA4 Contact Print, 2016
Galerie Eva Presenhuber, Zürich

Abstrakte oder installative Formen der Fotografie haben auch in Kanada und den USA eine größere Bedeutung erhalten.

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Martine Gutierrez,
Body En Thrall, p120 from Indigenous Woman (Detail), 2018, © Martine Gutierrez; Courtesy of
the artist and RYAN LEE Gallery, New York

Und besonders die Frage nach der indigenen und auch afroamerikanischen Identität spielen in der dortigen Kultur eine zentrale Rolle, die ihren Ausdruck längst auch in der künstlerischen Bild-Welt gefunden hat.

Dies sind nur einige Hinweise darauf, was die Ausstellung zeigt.

 

Ihr Besuch lohnt vom 6. 11. 2021 bis 13. 2. 2022 im Sprengel Museum Hannover und vom 12. 3. bis 26. 6. 2022 im Museum der Moderne, Salzburg.

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Ein umfassender Katalog mit vielen Abbildungen ist zum Preis von 39 € erhältlich. 

Konzeption: Stefan Gronert
Text: Alexander Leinemann